Mobile Accessibility

Als 1999 mit den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) die erste Fassung der internationalen „Richtlinien für barrierefreie Webinhalte“ der Web Accessibility Initiative des W3C veröffentlicht wurde, war mobiles Internet noch Zukunftsmusik. Und als die derzeit gültige WCAG 2.0 nach über neunjähriger Beratung Ende 2008 verabschiedet wurde, hatte das erste iPhone gerade erst das Licht der Welt erblickt. Das mobile Internet hat in etwas mehr als acht Jahren im wahrsten Sinne des Wortes die Welt verändert. Grund genug, um einen genauen Blick auf das Thema Mobile Accessibility zu werfen. Wir wollen Ihnen zeigen, wie weit das Thema Mobile Accessibility fortgeschritten ist, welche möglichen Testmethoden es gibt und welche Quellen Ihnen bei der Entwicklung barrierefreier Webanwendungen und Applikationen weiterhelfen können.

Seit der Veröffentlichung des ersten iPhones als erstes richtiges Smartphone mit einem eigenen App-Kosmos, den Millionen Entwickler weltweit mit eigenen Anwendungen gefüttert haben, hat das mobile Internet einen Siegeszug ohne Gleichen hingelegt. Innerhalb von nur acht Jahren ist der Globus auf die Größe eines 6 Zoll Displays mit Touch-Funktion geschrumpft. Einer Prognose des Marktforschungsunternehmens CCS Insight zufolge wird es 2017 erstmals mehr Smartphones auf der Erde geben, als Menschen (https://goo.gl/g9jtbk). Dieser rasanten Entwicklung konnten die WCAG nur mit Verzögerung folgen. Und nationale Gesetze, wie die BITV sowie das vom Bund geförderte Testverfahren (BIK-Test) hinken diesbezüglich massiv hinterher. Dabei haben gerade Apple mit dem Betriebssystem iOS und Google mit Android das Thema Barrierefreiheit auf mobilen Endgeräten stark angetrieben.

Mobile Accessibility Task Force
Erst Anfang 2015 wurde Mobile Accessibility Task Force der Web Accessibility Initiative (WAI) beim W3C ins Leben gerufen (https://www.w3.org/WAI/GL/mobile-a11y-tf/). Mit Verspätung hat sich die Task Force daran gemacht festzulegen, wie die Prinzipen, Richtlinien und Erfolgskriterien der WCAG 2.0 und andere Richtlinien des W3C auf mobile Webinhalte, mobile Webapps sowie hybride und native Apps angewendet werden können (https://www.w3.org/TR/mobile-accessibility-mapping). Die Mobile Accessibility Task Force der WAI betreibt darüber hinaus ein lebendiges Wiki – für Experten, die der ständigen Arbeit und Weiterentwicklung der Mobile Accessibility Task Force folgen möchten (https://www.w3.org/WAI/GL/mobile-a11y-tf/wiki/Main_Page).

Technologie Unabhängig
Die WCAG 2.0 (und damit auch die BITV 2.0) sind in ihrer Grundanlage von vorneherein (relativ) Technologie unabhängig formuliert wurden, was in der WCAG 1.0 noch nicht der Fall war – ein Fehler, den man nicht wiederholen wollte. Deshalb wurden neben den Richtlinien und Erfolgskriterien (und Failures) so genannte Grundprinzipien definiert, die Technologie unabhängig immer Anwendung finden können. Die so genannte POUR-Regel macht es relativ einfach Prinzipien zu behalten.

  • Perceivable (wahrnehmbar)
  • Operable (bedienbar)
  • Understandable (verständlich)
  • Robust (robust)

Ergänzend zu diesen vier Prinzipien gilt das Zwei-Sinne-Prinzip, womit Sie ein relativ simples aber zuverlässiges Testgerüst nach den Vorgaben der WCAG zur Verfügung stehen haben. Das Zwei-Sinne-Prinzip setzt voraus, dass für die Darstellung von Inhalten und die Bereitstellung von Funktionen mindestens zwei Sinne berücksichtigt werden. So dürfen sämtliche Funktionen und Inhalte nicht nur in visueller Form präsentiert werden, sondern müssen beispielsweise auch über Sprachausgabe zugänglich sein.

WCAG meet Mobile
Den eingangs genannten vier Prinzipien der WCAG hat die Mobile Accessibility Task Force (Mobile A11Y TF) verschiedene, anwendbare WCAG Techniken zugeordnet.
Folgende Aspekte der Barrierefreiheit auf mobilen Endgeräten tangieren das Prinzip…

Perceivable (wahrnehmbar)

  1. Kleine Bildschirmformate
  2. Zoom und Lupenfunktion
  3. Farbkontrast

Folgende Aspekte der Barrierefreiheit auf mobilen Endgeräten tangieren das Prinzip…
Operable (bedienbar)

  • Tastatursteuerbarkeit von mobilen Touchscreengeräten
  • Touchgröße von Bedienelementen und deren Abständen
  • Unterstützung von Touchscreen Gesten
  • Innovative Geräte-Funktionen (Schütteln, Kippen, etc.)
  • Platzierung von einfach zugänglichenFunktionselementen

Folgende Aspekte der Barrierefreiheit auf mobilen Endgeräten tangieren das Prinzip…
Understandable (verständlich)

  • Geräte Ausrichtung (Porträt-/Landschafts-Modus)
  • Konsistentes Layout
  • Positionierung von wichtigen Seitenelementen vor dem erstens Scroll
  • Gruppierung von gleichartigen Funktionselementen auf Navigation)
  • Eindeutige Indikation von klickbaren Elementen
  • Bereitstellung von Erklärungen für eigene Touchscreen-Gesten und Gerätebewegungen, die eine Funktion auslösen.

Folgende Aspekte der Barrierefreiheit auf mobilen Endgeräten tangieren das Prinzip…
Robust (robust)

  • Kontext-Änderung der virtuellen Tastatur (z.B. bei HTML5 Formularfeldern für E-Mail, etc.)
  • Berücksichtigung verschiedener Möglichkeiten der Dateneingabe auf mobilen Endgeräten (virtuellen Tastatur,
  • Bluetooth Tastatur, Touch und Spracheingabe)
  • Unterstützung der charakteristischen Plattform-Eigenschaften (iOS, Android, Windows-Phone, etc.)

Nur Blinde Menschen im Visier?
An der obigen Liste können Sie sehen, dass Sie mit dem Thema Mobile Accessibility nicht nur blinde und stark sehbehinderte Menschen adressieren, die in der Regel einen Screenreader nutzen. Tatsächlich gibt es Zielgruppen, die noch viel schwieriger zu berücksichtigen sind, dazu zählen:

  • Teilweise in ihrer Sehkraft eingeschränkte Menschen, insbesondere wenn es um kleinere Screens geht (Vergrößerungsmöglichkeit)
  • Menschen mit unterschiedlichen Arten von Farbenblindheit
  • Menschen mit Schreib-Leseschwäche und anderen kognitiven Einschränkungen, die die Lesefähigkeit beeinflussen
  • Motorische Einschränkungen, welche die Bewegungsfähigkeit der Finger betreffen (zum Beispiel Arthritis)
  • Eine Kombination der verschiedenen Einschränkungen

Mobile Accessibility Testing
Die Zuordnung von WCAG-Techniken auf Eigenschaften bzw. Anforderungen mobiler Anwendungen ist eine Sache. Das so genannte Mobile Accessibility Testing, also die geprüfte und somit Qualität gesicherte Barrierfreiheit mobiler Webseiten, Webapps, hybrider und nativer Apps steht auf einem ganz anderen Blatt. Denn über die Jahre haben sich ganze Test-Frameworks entwickelt, mit denen sich Browser basierte Webanwendungen auf Herz und Nieren testen lassen. Eine stets aktualisierte Liste findet sich ebenfalls beim W3C unter folgender URL https://www.w3.org/WAI/ER/tools/. Auf dem Online-Portal Barrierekompass habe ich vor nicht allzu langer Zeit eine Anleitung für 8 ganz einfache Tests veröffentlicht, die wirklich jeder durchführen kann ohne ein Experte zu sein. http://barrierekompass.de/barrierefreies-internet/8-einfache-tests-testen-sie-selbst.html

Alle Browser basierten Anwendungen und responsive Webseiten lassen sich mit diesen Tools bis zu einem gewissen Grad sehr gut testen. Allerdings stoßen die gängigen Testwerkzeuge insbesondere bei gerätetypischen, bzw. Betriebssystem abhängigen Eigenschaften und Funktionen, wie zum Beispiel Spracheingabe und Sprachausgabe, virtueller Tastatur, Kontextänderung, Touchgesten, und dergleichen mehr an ihre Grenzen. Und hybride bzw. native Apps, die nicht mehr in einem Browser simulierbar und damit testbar sind, entziehen sich praktisch gänzlich gängigen Testverfahren.

Erweiterte Geräte-Funktionen
Die genannten Einschränkungen der verfügbaren Test-Frameworks macht es im Prinzip unerlässlich, auch mit echten Endgeräten zu testen. Glücklicherweise sind insbesondere Apple iPad und iPhone und mobile Endgeräte mit dem Betriebssystem Android bereits mit einigen beachtlichen, erweiterten Gerätefunktionen ausgestattet, mit denen eigentlich jeder verschiedene Aspekte der Barrierefreiheit zusätzlich testen kann.

Accessibility Features wie Lupenfunktion, Schriftvergrößerung und benutzerdefinierte Farben, bzw. in Invertierungsmodus sind mittlerweile auf den meisten Endgeräten Standard. So können Nutzer des Betriebssystem Android seit Version 7.0 Nougat direkt beim Setup-Start, wenn das Smartphone oder Tablet zum ersten Mal in Betrieb genommen wird, die wichtigsten Accessibility Features einstellen: Zoomfunktion über Touchgesten, Schrift- und Bildschirmvergrößerung sowie den Screenreader Talkback. Und sogar die komplette Bildschirm-Ansicht lässt sich vergrößern. Da die Anpassungen jederzeit wieder über die Einstellungen geändert werden können, lassen sich diese Accessibility Features auch hervorragend zum Testen nutzen. Diese Entwicklung bei Google ist übrigens kein Zufall. Google forciert das Thema Barrierefreiheit bereits seit längerem. Laut Eve Andersson, die für das Thema Accessibility bei Google verantwortlich ist, hat Google unter anderem einen Fond in Höhe von 20 Millionen USD eingerichtet, der Organisationen unterstützen soll, die das Thema Accessibility vorantreiben und Technologie nutzen, um Menschen mit Behinderung zu helfen. Für Google ist das kein Selbstzweck. Ein Großteil der Technologien, die am Ende Menschen mit Behinderungen helfen, sind einfach gut konzipierte Technologien, die allen Nutzern helfen kann, so Eve Andersson von Google.

Ende März 2016 hat Google in diesem Zusammenhang auch eine neue App für Android herausgebracht, mit der sich Accessibility-Probleme noch leichter erkennen lassen sollen. Die App nennt sich Google Accessibiliy Scanner und soll potenzielle Accessibility Probleme in Android Apps aufdecken. Laut Beschreibung im Google Play Store (https://goo.gl/g35aqc) sind technische Fähigkeiten des Testers keine Vorraussetzung. Der Tester muss einfach die entsprechende App, überprüft werden soll, öffnen und auf den Scanner-Button klicken. Schon startet der automatische Test. Und auch Apple bietet eine ähnliche automatische Accessibility-Auditing-App an (https://goo.gl/FOOVQX).

Screenreader Tests durchführen
Früher war der Screenreader JAWS der Platzhirsch und für Tests durch ungeübte Anwender aus unterschiedlichen Gründen denkbar ungeeignet. Heute teilt sie sich JAWS das Feld mit anderen Lösungen, wie Window-Eyes, VoiceOver, NVDA, ZoomText, ChromeVox, um die wichtigsten zu nennen.
Vor allem die Anbieter „Mobiler Lösungen“ wie Talkback auf Google Android und Apples VoiceOver sind auf dem Vormarsch. VoiceOver wird auf Apples Mac-OS-X-Systemen seit Version 10.4 kostenlos mitgeliefert und erleichtert blinden und stark sehbehinderten Menschen die Bedienung von Mac-Rechnern mithilfe von Tastatur und Spracheingabe. Mittlerweile ist VoiceOver in 26 Sprachen verfügbar. Insbesondere die Verbreitung von iPhones und iPads, auf denen VoiceOver ebenfalls vorinstalliert ist, hat VoiceOver zu einer der am weitesten verbreiteten Screenreader-Software werden lassen.

Positiver Nebeneffekt, praktisch jeder kann über die Einstellungen auf seinem mobilen Endgerät den Screenreader aktivieren und zum Testen auf mobilen Webseiten oder Apps einsetzen.

Online Ressourcen
Wem die bisherigen genannten Tools noch nicht ausreichen bzw., wer gegebenenfalls noch tiefer in die Materie einsteigen möchte, dem stehen von den großen Entwicklerplattformen Google, Apple und Microsoft umfassende Ressourcen-Sammlungen zur Verfügung:

Und wem das noch nicht genügt, dem seien die BBC Mobile Accessibility Guidelines ans Herz gelegt.

Die „BBC Standards and Guidelines for Mobile Accessibility“ beinhalten ein umfassendes Set an Technologien, Erkenntnissen und Best-Practice Beispielen für Mobile Web Content, Hybrid und Native Apps. Das online zur Verfügung gestellte Framework ist ursprünglich für die BBC Angestellten, Zulieferer und sonst irgendwie involvierten Personen und Unternehmen etabliert worden, die mit der Entwicklung von mobilen Websites und Applikationen betraut sind. Aber letztendlich kann jeder auf diesem umfassenden und hervorragend dokumentierten Fundus der BBC zurückgreifen: http://www.bbc.co.uk/guidelines/futuremedia/accessibility/mobile

Fazit
Wenn man die lediglich auf die BITV schaut, dann muss man das Gefühl haben, dass Mobile Accessibility noch in den Kinderschuhen steckt. Wenn man jedoch einen Blick über den Tellerrand wirft, dann wird schnell deutlich, dass deutsche Verordnungen schlichtweg nicht mit dem rasantem Tempo technischer Entwicklungen mithalten können. Insofern muss jeder, der das Thema Barrierefreiheit ernst nimmt und Anforderungen der BITV bzw. WCAG auch auf mobile Internetseiten und Anwendungen übertragen möchte seinen eigenen deutschen Horizont erweitern und sich bei den umfangreich vorhandenen internationalen Online-Ressourcen bedienen. Das betrifft nicht nur Entwickler, sondern auch Redakteure und Tester und alle Personen, die letztendlich mit der Qualitätssicherung und Sicherstellung von Barrierefreiheit digitaler Medien betraut sind.

Dieser Beitrag wurde eingereicht von Jörg Morsdorf, Agentur anatom5 GmbH, aus Düsseldorf.
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